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Years and Years

Der Drehbuchautor und Produzent Russell T. Davies gilt als einer der kreativsten und erfolgreichsten Köpfe der britischen Fernsehunterhaltung. Mit "Queer As Folk" bescherte er der BBC die meisten Beschwerden zu einer Serie, aber auch große Aufmerksamkeit und hohe Einschaltqouten für sein Drama um homosexuelle Männer in Manchester. Ihm ist auch die erfolgreiche Neuauflage der "Doctor Who"-Serie zu verdanken, er war es auch, der dieser Serie noch zwei Spin-Offs bescherte. Daneben hat er aufsehenerregende Mini-Serien wie "A Very English Scandal" und "Years and Years" geschrieben und produiziert. Letztere ist nun auf BluRay und DVD erhältlich.

Im Mittelpunkt der Serie steht der Alltag der Familie Lyons in einem Zeitraum von 15 Jahren. Die vier Geschwister Daniel, Stephen, Rosie und Edith sind nach dem frühen Tod der Mutter bei ihrer Großmutter Muriel aufgewachsen, nachdem der Vater der vier die Familie verlassen und eine neue Familie gegründet hat. Daniel, Angestellter im Wohnungsamt, und plant seine Hochzeit mit seinem Lebensgefährten Ralph, verliebt sich aber kurz danach in einen anderen Mann. Stephen arbeitet als Finanzberater, dessen Frau Celeste ist Buchhalterin, die aufgrund einer neuen Software nicht mehr gebraucht und die Künstliche Intelligenz ersetzt wird. Ihre beiden Kinder Bethany und Ruby bereiten ihnen reichlich Sorgen, vor allem Bethany, die davon träumt, als "TransHuman" mit moderner Technik zu verschmelzen. Ruby ist alleinerziehende Mutter zweier Söhne und arbeitet in einer Schulcafeteria. Sie sitzt im Rollstuhl und träumt von der großen Liebe. Edith ist ständig auf Reisen quer durch die Welt, um für verschiedene Hilfsorganisationen zu arbeiten, und war somit die letzten Jahre nicht mehr bei ihrer Familie.
Während einer Familienfeier der Lyons im Jahr 2019 kommt es zu einem dramatischen Zwischenfall, als US-Präsident Trump einen Atomkrieg auslöst, bevor er in eine zweite Amtszeit geht. Weltweit gewinnen Populisten und Nationalisten immer mehr Einfluss und Macht, übernehmen Parlamente und Regierungen und stellen mit ihren Ideen die Welt auf den Kopf. Aufgrund eines Bankenkollaps, der schlimmere Auswirkungen als in 2008 hat, verlieren die meisten Briten all ihre Ersparnisse und Arbeitsplätze. Als kurze Zeit später mehrere Pharmafirmen pleite gehen, ist die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten nicht mehr gewährleistet. Die Zahl der Flüchtlinge wird immer größer, vor allem, als russische Truppen die Ukraine besetzten. Als Antwort darauf errichtet die britische Regierung, die nun von einer populistischen Premierministerin geführt wird, streng abgeschirmte Konzentrationslager, in denen ein tödliches Virus wütet. In ganz Europa herrscht ein politisches und wirtschaftliches Chaos.

Die sechs Teile der Serie liegen auf zwei BluRays in der deutschen und englischen Sprachfassung (DTS HD-MA 5.1) vor. Extras gibt es keine.

Als "Years and Years" im vergangenen Jahr im Hauptprogramm der BBC gezeigt wurde, gab es kaum mehr ein anderes Thema auf der Insel. Russell T. Davies spielt in seiner neuesten Serie mit vielen Gedanken, die unser Leben beeinflussen könnten oder es zum Teil schon tun. Beim Schreiben der Drehbücher hat er sich durch keine noch so abstruse Idee stoppen lassen, und vermengt alles in den Plot um die Familie Lyons, was viel von den Zuschauern, vor allem in den ersten beiden Folgen, abverlangt, allein schon, um nur die unbändige Informationsflut verarbeiten zu können. Klimakatastrophe, Staatskrisen, Flüchtlingskrisen, Tod, wirtschaftlicher Bankrott, Kollaps der Gesundheitssysteme, Armut, Genozid, Wohnungsnot, steigende Kosten des Lebensunterhalts, Unwetterkatastrophen, Abschaffung der Pressefreiheit, Enteignung. Es gibt wirklich nichts, was in diesen sechs Folgen ausgelassen wird.
Spannend sind vor allem seine Annahmen der nahen politischen Zukunft. So wird angenommen, dass US-Präsident Trump nicht nur seine Wiederwahl gewinnt und einen Atomkrieg anzettelt, sein bisheriger Vize-Präsident folgt ihm nach, wobei Trump weiterhin im Hintergrund die Fäden zieht. Angela Merkel ist kein Ruhestand vergönnt, denn nach Ansicht der Autoren bleibt sie bis zu ihrem Tod Bundeskanzlerin. In Großbritannien wird die Wahlpflicht eingeführt, es sollen nach dem Willen der populistischen Vier-Sterne-Patrei aber nur Menschen wählen dürfen, die über einen IQ von mindestens 70 verfügen. Die USA verlassen die UNO, mehrere europäische Länder gehen in den Staatsbankrott. Doch auch in anderen Bereichen sorgt Davies für zahlreiche Überraschungen, wenn er davon ausgeht, dass kaum jemand jemals laktoseintolerant war, sondern eine Fructoseintoleranz falsch interpretiert wurde. Den technischen Fortschritt zeigt Davies vor allem an der Figur der Bethany, die mit kybernetischen Implantaten experimentiert, und so als Mensch-Maschine agiert.
Bemerkenswert ist auch die Rede von Großmutter Muriel während einer Familienfeier, die aufzeigt, dass alle Schuld haben, dass es auf der Welt so weit gekommen ist, weil niemand etwas dagegen gesagt oder getan hätte. Allein über diese Rede wurde in Großbritannien tagelang diskutiert.

Als ob diese dystopische Geschichte nicht schon dramatisch genug wäre, schafft es der Komponist Murray Gold, mit seiner orchestralen und sehr bedrohlich wirkenden Musik das Drama körperlich erlebbar zu machen. Vor allem zum Ende jeder Folge, wenn zusätzlich ein Chor einsetzt.

Getragen wird diese harte Kost von den herausragenden Schauspielern Rory Kinnear, Russell Tovey, Jessica Hynes, T'Nia Miller, Anne Reid, Ruth Madeley und Emma Thompson, die einen auf eine irre Reise mitnehmen und die Ereignisse hautnah erleben lassen. Das schnörkellose Drehbuch und die brutale Regie entwickeln zusammen mit dem großartigen Cast eine gnadenlose Wucht, die niemanden unberührt, seine Zuschauer eher schockiert zurück lässt, und noch tagelang nachwirkt. Großartiger und dramatischer geht Fernsehen nicht!

Diese Serie fordert seine Zuschauer in hohem Maße, zeigt sie doch ungeschönt eine nahe Zukunft, wie sie uns wirklich erwarten könnte, denn abwegig sind all die aufgezeigten Katastrophen, Wendungen und Entwicklungen keineswegs, teilweise sind sie schon so eingetreten. Spätestens nach Muriels Rede sollte jeder Zuschauer ins Nachdenken kommen, wie diese aufgezeigten Dramen noch verhindert werden können.

Wer dachte, dass die Beschreibung des Lebens in der nahen, dystopischen Zukunft mit "The Handmaid's Tale" bereits seinen dramatischen Höhepunkt erricht hatte, wird von "Years and Years" eines Besseren belehrt, denn dagegen ist die Geschichte um die Magd nur leichte Unterhaltung.

Pascal May